Am Beispiel Wandbild: Rassismus besprechbar machen
Verein «Das Wandbild muss weg!»
1949 malen die sozialkritischen Künstler Eugen Jordi und Emil Zbinden im Auftrag der Stadt Bern ein Wandbild-ABC im Schulhaus Wylergut: A wie Affe, B wie Blume, Z wie Ziege. Drei Buchstaben des Alphabets teilen die Menschheit in «Rassen» ein, die sich angeblich anhand ihrer Körpermerkmale unterscheiden. Die Buchstaben beziehen sich auf nicht-europäische Menschen: C steht für Chinese, I für die indigene Person Amerikas und N für die Schwarze Person. Nicht nur diese Rasseneinteilung und die verwendete Begrifflichkeit, sondern auch die Gleichsetzung nicht-weisser Menschen mit Pflanzen und Tieren, vermitteln, wie Patricia Purtschert im Folgetext ausführt, ein koloniales Welt- und ein rassistisches Menschenbild.
Siebzig Jahre lang ist das Wandbild kaum Gegenstand öffentlichen Interesses, bis 2019 ein Artikel in der Zeitung Der Bund erscheint und verschiedene antirassistische Kollektive und Aktivist*innen eine kritische Aufarbeitung fordern. Wie kann es sein, fragen diese Stimmen, dass in einem Primarschulhaus ein Wandbild-ABC aus der Nachkriegszeit bis heute rassistische Darstellungen zeigt?
Die Stadt Bern schreibt im gleichen Jahr einen öffentlichen Wettbewerb zur Kontextualisierung des Wandbilds aus. Die Stadtbehörde sucht nach Vorschlägen, wie mit dem Wandbild umgegangen werden kann. Im Sommer 2020, im laufenden Wettbewerb, werden die Bildfelder C, I und N von unbekannten Aktivist*innen schwarz übermalt. Kurz zuvor hatten die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung Europa und die Schweiz erreicht.
Der Wettbewerbsvorschlag, den wir mit «Das Wandbild muss weg!» im Wettbewerb machen, besteht aus drei Teilen: Das Wandbild soll erstens aus dem Schulhaus entfernt und zweitens dem Bernischen Historischen Museum geschenkt werden. Drittens soll die frei gewordene Wand im Schulhaus mit einer temporären künstlerischen Installation bespielt werden, die an die Verletzungen rund um das Wandbild erinnert.
In der Schule, so unsere Argumentation, verstösst das Wandbild gegen demokratische Grundrechte wie Chancengleichheit und Diskriminierungsverbot, die beide in der Bundesverfassung verankert sind. Für Schüler*innen, die nicht der weissen Dominanzgesellschaft angehören, ist die tägliche Begegnung mit dem Wandbild diskriminierend. Sie können in einer Umgebung, die sie aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft abwertet, nicht gleichberechtigt lernen. Und auch für weisse Schüler*innen ist es verstörend, in einer Umgebung unterrichtet zu werden, die grossflächig die Idee einer weissen Überlegenheit vermittelt und BIPoC-Mitschüler*innen entwürdigt. Die Tatsache, dass das Wandbild so lange in dieser Volksschule präsent blieb, verdeutlicht, wie dringend nötig in Bern eine kritische Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe ist. Eine solche Auseinandersetzung ist aber nur möglich, wenn das Objekt der Kontroverse aus dem Schulhaus entfernt und in eine Institution überführt wird, die sich dem historischen Lernen verpflichtet. Ein solcher Ort ist in Bern das Historische Museum.
Unser Vorschlag respektive der Vorschlag des zwischenzeitlich gegründeten Vereins «Das Wandbild muss weg!» gewinnt den städtischen Wettbewerb im März 2021.
Nach langen Verhandlungen unter den beteiligten Institutionen, Behörden und Einzelpersonen – der Kultur Stadt Bern, dem Bernischen Historischen Museum, der Hochschule der Künste Bern (Abteilung Konservierung und Restaurierung), den Erb*innen der Künstler Eugen Jordi und Emil Zbinden und dem ausführenden Restaurator – kann das Vorhaben umgesetzt werden: Das Wandbild wird 2023 im Schulhaus konservatorisch von der Wand genommen und dem Bernischen Historischen Museum geschenkt. Seit Frühling 2024 ist das Wandbild Teil der Historischen Sammlung dieses Hauses.
Das Bernische Historische Museum hat das Wandbild mitsamt den schwarzen Übermalungen der Aktivist*innen in seine Sammlung aufgenommen. Damit ist das Wandbild das erste Sammlungsobjekt des Museums, in dem sich nicht nur eine koloniale Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts manifestiert, sondern das auch ein Akt von antirassistischem Widerstand gegen das Fortwirken dieser kolonialen Kultur im 21. Jahrhundert dokumentiert.
Mit dem Vorschlag, das Wandbild im Besitz der Stadt Bern dem Bernischen Historischen Museum zu schenken, luden wir das Museum dazu ein, Kolonialismus und Rassismus zu thematisieren und damit einen Beitrag zur aktuellen gesellschaftlichen Debatte zu leisten. Die Leitung des Museums zeigte sich unserem Vorschlag gegenüber aufgeschlossen. Er passte zu laufenden Prozessen, in denen sich das Museum mit den kolonialen Verflechtungen Berns und der eigenen Institution auseinandersetzt. Wir kamen überein, dass wir, der Verein, eine Ausstellung rund um das Wandbild kuratieren. Sie besteht aus den folgenden drei Teilen.
Im ersten Ausstellungsteil kommt die Breite der Debatte um das Wandbild zum Ausdruck. Anhand eines Zeitstrahls, der sich durch die gesamte Ausstellung zieht, werden sowohl die Kritik am Wandbild als auch die dadurch ausgelösten Reaktionen dokumentiert. Denn erste Kritik war von einzelnen Lehrpersonen und Eltern bereits in den 1980er Jahren formuliert worden. Und ab den 1990er Jahren wurde schulintern ein Umgang mit den rassistischen Darstellungen gesucht. Doch erst 2019 intensivierte sich die Kritik. Die Debatte verschob sich aus der Schule in die Öffentlichkeit und in die Medien. Die Abnahme des Wandbilds schliesslich löste bei Verteidiger*innen des künstlerischen Werks und des gesellschaftlichen Status Quo heftige Gegenwehr aus. Demgegenüber erhielt das Vorhaben ebenso starken Zuspruch von den Befürworter*innen.
Für den zweiten Teil der Ausstellung nutzten wir das Gastkuratorium dafür, um wiederum andere einzuladen, nämlich Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Aktivist*innen und Kulturschaffende, die sich seit Jahren mit ihrer Expertise für eine antirassistische Gegenwart und Zukunft einsetzen. Mit eigenständigen Beiträgen öffnen sie andere Perspektiven auf das Wandbild und untersuchen die koloniale Alltagskultur und den Umgang mit Rassismus historisch und im Jetzt. Die Beiträge zeigen auf, wie Denken, Sehen und Hören von Weltbildern geprägt sind, und sie unterbrechen die antrainierten Sprech-, Hör- und Sehweisen. Und sie animieren dazu, überholte Geschichtsbilder zu hinterfragen und zukunftstauglichere Erzählungen mitzugestalten. Die Beiträge werden in, auf, um und unter Museumsvitrinen und -sockeln gezeigt, die im Raum freistehende Formationen bilden. Sie sind als Denkanstösse, als fragmentarisch und beispielhaft zu verstehen und wollen Themen nicht abschliessend behandeln, sondern zu weiterführenden Auseinandersetzungen anregen.
Der dritte Teil befindet sich im hinteren Bereich der L-förmigen Ausstellung. Hier steht das aus der Schule entfernte und restaurierte Wandbild von Eugen Jordi und Emil Zbinden. Es ist eingebettet in einen Lern-, Verweil- und Veranstaltungsbereich, der verschiedene Arten der Auseinandersetzung ermöglicht: Stilles (oder lautes) Lesen und Vertiefen in bereitgestellte Materialien, spontane Diskussionen und Interaktionen, Workshops und Veranstaltungen. Die Besucher*innen können sich zum Wandbild und zu den Inhalten der Ausstellung in Beziehung setzen, sich Wissen über die Geschichte des Kolonialismus aneignen und reflektieren, welche Weltbilder die eigene Wahrnehmung der Gegenwart prägen. Wer hier auf das originale Wandbild blickt, hat sich im Raum davor bereits mit dessen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte beschäftigt oder ist mit den anwesenden Vermittler*innen in ein Gespräch getreten. Die Ausstellung ist am Schluss aber nicht zu Ende. Auf dem Weg zurück zum Ausgang bietet sich nochmals eine andere Perspektive auf die Ausstellung.
Kurz gesagt, die Ausstellung stellt weder das Wandbild noch dessen Erschaffer – Eugen Jordi und Emil Zbinden – ins Zentrum. Das Wandbild und die Kontroversen, die es auslöst, bilden vielmehr eine Linse. Sie machen nachvollziehbar, wie die bernische Gesellschaft durch den Kolonialismus mitgeformt wurde. Und sie dokumentieren, wie diese Gesellschaft mit dem fortwirkenden Rassismus in der Gegenwart umzugehen versucht.
Die Funktion des Wandbilds hat sich mit dem Umzug fundamental gewandelt. Während es in der Schule aufgrund seines diskriminierenden Charakters demokratisches und gleichberechtigtes Lernen für Kinder erschwerte, ermöglicht es im Museum ein ausserschulisches, gesellschaftliches Lernen. Damit ist unser Projekt Teil eines grösseren gesellschaftlichen Prozesses, der weit über Bern und die Schweiz hinausreicht. Mit ihrer Kritik an Denkmälern, Strassennamen und anderen Zeugnissen einer kolonialen Kultur im öffentlichen Raum, haben dekoloniale und antirassistische Initiativen in jüngerer Zeit Behörden, Kultur- und Bildungseinrichtungen weltweit dazu gedrängt, sich der kolonialen Vergangenheit und dem kolonialen Erbe nicht weiter zu verschliessen, sondern sich diesen zuzuwenden. Diesem Prozess kann sich niemand entziehen. Für uns alle gilt, wenn auch in unterschiedlicher Weise: Nur wenn wir Rassismus und die Auswirkungen von Kolonialismus diskutierbar machen, öffnen sich uns neue Wege für eine gerechtere Zukunft.
Verein «Das Wandbild muss weg!»: Izabel Barros, Fatima Moumouni, Esther Poppe, Vera Ryser, Bernhard C. Schär, Angela Wittwer
Dieser Text erschien im Rahmen der Ausstellung «Widerstände. Vom Umgang mit Rassismus in Bern», die noch bis am 1. Juni 2025 im Bernischen Historischen Museum zu sehen ist.